Augustas Tagebuch

Online Roman

 Augustas Tagebuch

 

29. Juli 2014, 16 Uhr

 

Teil 1

 

Eine Menge bleicher Blätter und andere vom letzten Gewitter abgerissene Pflanzenreste bedecken Straßen und Gehwege. Mein Fahrrad rollt leise über die trockenen Pflanzen und entlockt ihnen ein feines Knistern. Der Wind weht sanft heute.
Der Himmel ist weiß, wie so oft. Außer mir ist niemand unterwegs. Das Gras auf den städtischen Wiesen ist millimeterkurz gestutzt worden. Durch die Hitze wurde es inzwischen sandfarben, wüstenfarben wäre der bessere Ausdruck.
Ich genieße das Radfahren und freue mich, das ich heute ausnahmsweise einmal mitten auf der Straße fahren kann. Es ist auffallend wenig Verkehr.
Das erscheint mir sehr ungewöhnlich. Auffallend wenig Verkehr ist auch nicht ganz der richtige Ausdruck. Es ist genau genommen überhaupt kein Verkehr. Vielleicht findet irgendwo in der Stadt ein Marathonlauf statt oder sonst ein Event, von dem ich nichts mitbekommen habe.
Wo die Stadtgärtnerei die Pflanzen nicht im Griff hatte, stehen hohe bleiche Gräser, die überall aus Mauerritzen und Bodenplatten heraus wachsen.
Ich fahre zwei, drei Kilometer in Richtung Süd-Westen. Vielleicht finde ich heute ein paar Motive für meine neue Fotoserie.
Eine lange Reihe von Garagen aus den 1960 er Jahren, mitten zwischen den Häusern aus der Gründerzeit, erregt meine Aufmerksamkeit, weil ich von ihnen zuerst nur die Flachdächer sehen konnte, auf denen sich lange Halme vertrockneten Grases, wie das schüttere weiße Haar eines alten Herrn, im Wind wiegen.Ich halte an. Mir ist die steil abfallende Zufahrt zu riskant, um mit dem Rad hinunterzufahren, weil die Bremsen schwächeln. Also gehe ich zu Fuß und schiebe das Rad. Eine der Garagen ist offen und ein Schild mit der Aufschrift „Biogemüse“ ist an der Mauer aufgestellt. Ich finde es seltsam, dass jemand an einem so versteckten Ort Biogemüse verkauft. Vor der Garage gibt es tatsächlich ein kleines Sortiment von Gemüse und Früchten. Quer über der Theke mit den Gemüsekisten ist eine Girlande aus dürren geflochtenen Gräsern gespannt. Ich hätte gern etwas gekauft, aber zunächst lässt sich niemand blicken. Nach einigen Hallo-Rufen rührt sich etwas. Zwei ältere füllige Damen kann ich schemenhaft im hinteren Teil der Garage ausmachen. Eine von ihnen kommt näher. „Kann ich bei Ihnen arbeiten“, höre ich mich fragen. Sie sieht mich kurz an und sagt: „Sie können morgen anfangen, Sie sehen ja, was hier los ist“. Dann zieht sie sich wieder zurück und ich bleibe mit den beiden Gemüsekisten und der merkwürdigen Girlande allein zurück.
Trotz der Hitze überkommt mich ein unbehagliches Frösteln. Was war das denn gerade eben gewesen? Ich beschließe, diesen Vorfall der Hitze zuzuschreiben, während ich das Fahrrad wieder die Auffahrt hochschiebe. Es ist so verdammt heiß, da muss ja etwas im Kopf durcheinander kommen.
Einige Straßen weiter muss ich schon wieder absteigen. Ein Polizeifahrzeug versperrt die Durchfahrt. Die Straße ist mit rot-weißen Absperrbändern markiert, das Blaulicht ist eingeschaltet und die Fahrertür steht offen. Im Wagen ist niemand, aber der Motor läuft. Ich zwänge mich mit meinem Rad an dem Fahrzeug vorbei, schlüpfe unter den Absperrbändern hindurch und fahre weiter, halte aber dann noch einmal kurz an und schaue zurück. Die Polizisten, wo sind die eigentlich, frage ich mich. Lassen ihr Fahrzeug unbeaufsichtigt hier stehen und unbeaufsichtigt auch die Absperrung. Ich finde das seltsam, aber da ich ich mir vorgenommen habe, nicht mehr so oft über Seltsames nachzudenken, drehe ich der Polizeistreife den Rücken zu und setze mich wieder in Bewegung. Doch kaum richtig auf dem Sattel, erfasst mich wie aus dem Nichts plötzlich eine glühend heiße Windböe, die mich beinahe vom Rad gefegt hätte. Ich kann gerade noch rechtzeitig abspringen. Direkt rechts neben mir bläht sich eine etwa drei Meter hohe, rötlich transparente Linse auf, und ich habe den Eindruck, im Inneren bewegte sich etwas. Ich kann jedoch nichts Genaues erkennen, das Ganze dauert höchstens eine Sekunde, wenn überhaupt so lange. Vor Schreck geben meine Beine nach, ich bin wie erstarrt und meine Knie zittern. Ich schaue an mir herunter, um nachzusehen, ob noch alles dran ist. Ich habe nämlich keine Lust, etwa mit einem abgerissenen Arm herumzuspazieren. Während ich mich noch über diesen Gedanken wundere, merke ich, wie mir schlecht wird. Ich setze mich auf die Straße. Mein Gehirn ist wie leergefegt. Mein Mund möchte etwas sagen, aber außer Zähneklappern ist nichts zu hören. Ich stehe unter Schock, stelle ich erstaunt fest. Jetzt müsste normalerweise doch jemand kommen, mich am Arm packen und in Sicherheit bringen. Dazu die Worte sprechen: „alles wird gut, gleich wird Hilfe kommen“. Aber es ist niemand da, weit und breit. Zitternd und nassgeschwitzt versuche ich aufzustehen, aber es geht nicht.
Das nächste, an das ich mich erinnern kann ist, dass ich wieder auf dem Rad sitze und in Richtung Bahnhof.weiterfahre. Zwei Ersatzbusse stehen an ihren Haltestellen. Fahrer kann ich keine erkennen. Straßenbahnen fahren schon lange nicht mehr. Den Bahnhofsplatz, der ohne schattenspendende Bäume im Sommer wie eine glühende Herdplatte ist, möchte ich meiden, weil ich keinen Hitzschlag bekommen möchte, falls ich ihn nicht schon habe. Das wäre mir sowieso die angenehmste Erklärung für all diese...Dinge.
Ich bevorzuge es, auf dem Gehweg unter den Arkaden hindurch zu fahren. Das ist eigentlich verboten. Aber da ohnehin niemand unterwegs ist, spielt es ja keine Rolle. Ich folge dem Schatten der Bäume in der Bahnhofstraße, finde Trassen durch ungehobeltes Grün, und dann muss ich wohl oder übel aus dem Schutz der Bäume heraus, um über den Festplatz den Rest der Strecke zurückzulegen. Ich bin mir nicht so richtig im Klaren, wo ich eigentlich hin will. Es sieht aber so aus, als ob ich gerade dabei bin, nachhause zu fahren. Schön. Dann wäre das geklärt. Ich gebe ein bisschen Gas, um den kahlen Platz möglichst schnell zu überqueren. Gern hätte ich an einem der Springbrunnen angehalten, aber sie sind alle abgestellt. Außen herum rot-weiße Absperrungen, innen drin Dreck und Betonbrocken.
Ich finde heute den Weg quer über die Nord-Südachse nicht auf Anhieb. Nach einigen hundert Metern Umweg aber entdecke ich dann einen neuen Zugang. Die Bagger in den Baugruben arbeiten nicht, auch die riesigen Bohr-oder Aushub-Maschinen schweigen Was ist eigentlich heute los? 
Als ich zuhause angekommen bin schaue ich in den Hof, ob die Autos der Nachbarn da sind. Außer meinem steht noch ein weiteres da. Das freut mich. Es wirkt irgendwie echt, denke ich und gehe hinauf in die Wohnung. Dort sieht auch alles normal aus. 

 

 

5. August, 8 Uhr


Letzte Nacht gab es ein wieder diesen Lärm, ich weiß nicht woher er kommt. Es war nicht wirklich Lärm, aber es fühlte sich so an. Eine Vibration, die durch den Körper geht, so ähnlich, wie Bässe bei einem Rock-Konzert. Ich habe schlecht geschlafen und schlechte Laune. Außerdem habe ich auf der rechten Körperhälfte einen heftigen Sonnenbrand. Woher ich den habe, ahne ich, will aber nicht daran denken.

 

 

6. August, 12 Uhr

 

Es ist immer noch irrsinnig heiß. Gestern war ich nicht draußen, die Hitze hatte mich abgeschreckt. Wir haben wieder über 40 Grad. Der Rheingraben mausert sich zur Sahelzone.

 

Ich überlege, ob ich im Keller schlafen soll. Mehr mag ich auch heute nicht schreiben. Zu anstrengend. Der einseitige Sonnenbrand ist schlimmer geworden, er hat heftig nachgeglüht. Einige Wasserbläschen haben sich gebildet, die ich hin und wieder abtupfen muss. „Das sind Brandblasen“, flüstert es in mir. „Halts Maul“, sage ich.

 

 

7. August, 16 Uhr

 

Heute war ich auch wieder nicht draußen, ich könnte mich direkt daran gewöhnen. Ich habe mich aber mal hingesetzt und meine Tagebucheinträge vom Juli noch einmal angeschaut. Ich finde einige sehr seltsam und habe sie in den virtuellen Papierkorb getan. Mit dem endgültigen Löschen möchte ich aber noch warten.
Diese Sache mit der „Besetzung“ meiner Wohnung kam mir von Anfang an verdächtig vor. Da die Wohnung aber jetzt wieder so ist wie vorher, könnte es doch sein, dass ich mich getäuscht habe. Es ist nur so, wen hätte ich fragen sollen? Es ist ja niemand da. Nun, es ist immerhin August und Urlaubszeit. Wenn die Hausbewohner dann wieder zurück sind, werde ich sie vielleicht einmal fragen, ob sie etwas bemerkt haben. Ich meine, zum Beispiel, ob es sie gestört hat, dass ich viel Besuch hatte. Ich könnte natürlich auch warten, ob jemand eine spitze Bemerkung macht. Auf jeden Fall werde ich nicht sagen, dass in meiner mehrtägigen Abwesenheit irgendwelche Leute meine Wohnung neu eingerichtet haben, und ich werde nicht fragen, ob im Haus etwas Auffälliges vorgefallen ist, Leute, die altmodische Möbel hoch schleppten,  ein Umzugs-LKW vor dem Haus oder fremde Autos im Hof. Ich möchte auf keinen Fall den Eindruck erwecken, dass bei mir etwas nicht stimmt.

 

 

8. August, 9 Uhr

 

Heute möchte ich etwas unternehmen,  ich warte allerdings noch auf ein Päckchen. Ich habe mir im Internet ein Buch bestellt, auf das ich mich freue.Letzte Nacht hat es abgekühlt und ich bin längere Zeit auf meinem Hinterhofdach bei meinen Pflanzen gewesen. Es hat ein bisschen geregnet und die Stauden werden sich wohl gut erholen. Eigentlich darf ich auf dem Dach keine Pflanzen halten und auch nicht hinaus klettern. Aber es ist mir egal.

 

 

9. August 10:30 Uhr

 

Das Päckchen ist gestern noch angekommen. Das Buch heißt „Himmelangst“.  Ich habe gleich angefangen zu lesen. Es ist spannend, aber ehrlich gesagt, es ist irgendwie ziemlich deprimierend. Die Handlung spielt mitten im Hochsommer, die Personen sind alle einsam und gehen entweder ungern aus dem Haus oder sie können nicht. Und sprechen traut sich auch keiner wegen der Zensur. Na toll, das hab ich doch selber auch alles schon. Fast, denke ich, und hätte beinahe gelacht.

 

 

10. August, 15 Uhr

 

Es ist kühl genug, nur 30 Grad, um mal wieder die Gegend mit der Kamera zu erkunden. Ein älteres Hochhaus am Rande einer Kleingartensiedlung hat es mir angetan. Das Hochhaus gibt es schon lange, aber erst, nachdem ich den Film „Geister“ von Lars von Trier gesehen hatte, habe ich es mir richtig angeschaut. Ich kann mir leider keinen Hubschrauberflug leisten, um das riegelförmige Gebäude zu fotografieren. Ich denke, es ist ohnehin interessanter, es aus den Schrebergärten heraus aufzunehmen. Ob da heute wohl jemand unterwegs ist? Die einsame Radfahrt vor einigen Tagen war schon ein bisschen seltsam. Ich ziehe jetzt mal los. Dann weiß ich es.

 

 

10. August, 16 Uhr

 

Zu meiner großen Erleichterung ist da draußen wieder der ganz normale Betrieb. Die Leute stolpern durch die Gegend. Radler, Fußgänger und Autofahrer teilen sich die engen Schneisen zwischen rot-weiß gestreiften Absperrungen. Pfützen mit dem Regen des Gewitters der letzten Nacht spiegeln das rot-weiße Muster. Der Staub, den die Großbaustellen in der trockenen windigen Zeit der letzten Wochen aufgewirbelt hatte, ist wie weggeblasen. Ich vermute ihn in den Lungen der Bevölkerung, die in unendlich langen Schikanen tagtäglich riesige Umwege zu den Konsumtempeln bewältigen müssen. Der Begriff Schikanen taucht immer wieder in der hiesigen Tageszeitung auf. Ich muss später einmal nachschauen, was damit eigentlich genau gemeint ist.

 

 

11. August, 8 Uhr

 

Jetzt muss ich mich aber doch wundern. In der Zeitung heute steht, dass es einen Bombenalarm mit Evakuierung in meinem Stadtviertel gegeben hat. Eine Bunker brechende Bombe ganz in der Nähe, wo ich wohne, wurde bei den Bauarbeiten aus der Großbaustelle ans Tageslicht befördert. Wenn ich mir das Datum anschaue, wann das gewesen sein soll, nämlich vorgestern, am 9. August,  dann war das, was ich damit und mit meinem „Sonnenbrand“ in Zusammenhang bringe, aber schon am 29. Juli gewesen. Das war der Tag mit der Absperrung und der Beobachtung, dass keine Menschen unterwegs gewesen waren und auf den Baustellen nicht gearbeitet wurde. Ich kann mich wirklich nur wundern. Wie schon gesagt. Und wieso habe ich nichts von der Bomben-Evakuierung mitbekommen, wo ich doch hier wohne? Und weshalb war am 29. Juli alles abgesperrt gewesen? Ist da irgend etwas in die Luft geflogen? Am falschen Tag?

 

 

 

12. August, 22 Uhr

 

Heute hat ein Mann angerufen und mich gefragt, wo die Möbel sind. Ein Gynäkologie-Untersuchungsstuhl aus den 1950 er Jahren, 10 Holzstühle ohne Armlehnen und ein niedriger schwarzer Tisch. Außerdem Tapetenrollen und Zeitschriften aus dieser Zeit. Ich sagte ihm, dass mir diese Gegenstände nicht bekannt sind und legte auf. Ich war ein bisschen schroff gewesen, das muss ich zugeben. Aber es hat mich auch beunruhigt. Vielleicht ist doch was dran an meinen Erinnerungen.

 

 

13. August, 12 Uhr

 

Ich lese gerade einen Bericht über Radon. Alle Isotope des Radons seien radioaktiv, steht in dem Artikel. Ich frage mich, ob das frei werdende Radon in den Baustellen irgend etwas mit meinen seltsamen Erlebnissen zu tun haben könnte. Vielleicht vernebelt es den Verstand, wer weiß.

 

 

14. August, 11 Uhr

 

Mein Badewannenabfluss ist verstopft. Schon wieder. Der Abflussfilter sitzt korrekt. Da kann eigentlich nichts durch. Ich muss mal schauen, was dahintersteckt. Ich finde jede Menge Abschirmungen und Verträge. So einfach wird das nicht werden. Ich lasse das Programm darüber laufen. Ich kann mir einen Seufzer nicht verkneifen. Ich weiß, was ich heute zu tun habe. Das kann dauern. Wenn ich nichts unternehme, muss ich damit rechnen, dass es zu einer Kettenreaktion kommt. Das werde ich merken, wenn ich mir gleich ein Toastbrot mache.

 

 

14. August, 16 Uhr

 

Ich glaube, es ist wieder alles in Ordnung. Falls ich nichts übersehen habe, versteht sich. Der Abfluss ist jedenfalls wieder frei. Das Toastbrot war einwandfrei. Der Toaster hat keinen Kurzschluss verursacht. Es hat auch hinterher nichts gefehlt, wie sonst üblich. Ich war aber den ganzen Tag auf der Hut, damit ich nichts übersehe.

 

 

15. August, 10 Uhr

 

Zu dem Begriff Schikane habe ich heute bei Wikipedia dies hier gefunden: Eine Schikane ist eine insbesondere durch „Ausnutzung staatlicher oder dienstlicher Machtbefugnisse getroffene Maßnahme, durch die jemandem unnötig Schwierigkeiten bereitet werden“; angelehnt daran auch „kleinliche böswillige Quälerei“. Meyers Großes Konversations-Lexikon definierte Schikane 1909 als„ [...] eine in böser Absicht veranlaßte Schwierigkeit, durch die namentlich die von einem andern bezweckte Ausführung einer Sache verzögert oder verhindert werden soll (calumnia). Das Bürgerliche Gesetzbuch gewährt Schutz gegen ein solches Vergehen durch § 226 (sogen. Schikaneparagraph), nach dem die Ausübung eines Rechtes unzulässig ist, wenn sie nur den Zweck haben kann, also jeder andre Zweck ausgeschlossen ist, einem andern Schaden zuzufügen. „wissen. de“ schreibt über „Schikạne“: Motorsport - meist künstliche Erschwernis (scharfe Kurve, Engpass u. Ä.) auf Motorsportrennstrecken, die die Fahrer zur Reduzierung der Geschwindigkeit zwingt.
Ich frage mich, ob nicht die Begriff Irrgarten oder Labyrinth besser zu der Situation in der Stadt passen würden.

 

Wikipedia schreibt hierzu:

 

Labyrinth bezeichnet ein System von Linien oder Wegen, das durch zahlreiche Richtungsänderungen ein Verfolgen oder Abschreiten des Musters zu einem Rätsel macht. Labyrinthe können als Bauwerk, Ornament, Mosaik, Pflanzung und Maislabyrinth, als Zeichnung oder Felsritzung ausgeführt sein. Auch in gedruckter Form existieren Abbildungen labyrinthischer Muster. Darüber hinaus wird der Begriff im übertragenen Sinne verwendet, um einen Sachverhalt als unüberschaubar oder schwierig zu kennzeichnen.

 

Die Formen von Labyrinthen sind vielfältig. Anhand der Linienführung (des Wegemusters) lassen sich zwei Arten unterscheiden:

 

Labyrinth im ursprünglichen Sinn: Ein verschlungener, verzweigungsfreier Weg, dessen Linienführung unter regelmäßigem Richtungswechsel zwangsläufig zum Ziel, dem Mittelpunkt gelangt. Labyrinth im weiteren Sinn: Ein System mit Verzweigungen, das Sackgassen oder geschlossene Schleifen enthalten kann. Diese Art Labyrinth wird auch Irrgarten genannt. Dort ist ein Verirren möglich und meist Sinn der Anlage.

 

 

16. August, 11 Uhr

 

Mein „Sonnenbrand“ ist immer noch nicht verheilt. Die ganze Seite ist voller Blasen. Einige sind aufgeplatzt und eine Menge Flüssigkeit kommt heraus. Das ist nicht gut. Soll ich zum Arzt gehen? Was soll ich ihm sagen? Dass ich nicht weiß, wie das passiert ist? Oder, dass ich beim Bahnhof auf meinem Fahrrad von einer drei Meter hohen rosafarbenen glühenden Linse attackiert wurde? Ich muss nachdenken. Egal, heute Abend, wenn es kühler wird, werde ich erst einmal wieder mit Freunden ausgehen, die ich schon länger nicht mehr gesehen habe. Ob ich sie fragen soll, ob ihnen am 29. Juli etwas aufgefallen ist? Dass keine Menschen unterwegs waren in der Stadt, keine Autos, keine Radfahrer. Ich weiß nicht, was das für einen Eindruck macht. Ich werde mir was Langärmliges anziehen müssen wegen der Brandblasen. Die im Gesicht werde ich als leichten Grillunfall verkaufen. Das wird gehen. Meine Freunde werden ohnehin kaum Fragen stellen. Die sind mit sich selber beschäftigt.

 

 

18. August

 

Ich habe die beiden Freunde gestern gefragt, ob sie schon im Urlaub gewesen sind. Ja, das waren sie. Sie kamen vor zwei Tagen zurück. Damit ist das Thema des 29. Juli mit den menschenleeren Straßen erst einmal vom Tisch.

 

Ich habe etwas wirklich Tolles in einer Zeitschrift entdeckt, nämlich die „Stealth-Ware“. Wenn man diese Klamotten an hat, kann man nicht so leicht von Wärmebildkameras identifiziert werden. Die Schmink- und Frisurentipps zum Vermeiden der Gesichtserkennung finde ich auch originell. Vielleicht hätte ich, angetan mit dieser Kleidung, auch keine Brandblasen bzw. keinen „Sonnenbrand“ bekommen, wer weiß.

 

 

19. August

 

Ich schaue mir die Fotos an, die ich in den Schrebergärten gemacht habe. Wie in einer Fotomontage sitzt das Hochhaus drin. An der schmalen Stirnseite steht eine große Trauerweide, die, wie um das schmale hohe Gebäude zu beschützen, ihre langen Äste ausstreckt. Der Kiesweg in der Gartenanlage führt perspektivisch auf das Hochhaus zu, gesäumt von niedrigen Holzhütten in kleinen eingezäunten Grundstücken. Darin herrscht eine beinahe schon grimmige Ordnung. Auf zwei Bildern sind Personen zu sehen. Da habe ich nicht aufgepasst. Die kann ich ohne Einverständniserklärung nicht verwenden.

 

Ich sortiere die Fotoserie und trage das Copyright in die Datei-Informationen ein. Dabei fällt mir auf, dass das Datum der Aufnahme falsch ist. Da steht 10.08.2015. Ich korrigiere den Eintrag.

 

 

20. August.

 

Heute hat eine Frau bei mir geklingelt. Sie sagte, sie hätte heute einen OP-Termin. Als ich ihr sagte, dass das nicht sein könnte, wurde sie pampig. Sie stieß mich mit dem Ellbogen gegen den Türrahmen und drängte sich in meine Wohnung. Ich war sprachlos.

 

 

21. August.

 

So langsam komme ich wieder in die Gänge. Diese Geschichte gestern hat mich ziemlich aus der Fassung gebracht. Die Frau konnte ich nach vielem Gestikulieren und Reden wieder loswerden. Sie konnte kaum Deutsch, heulte die meiste Zeit und war kaum ansprechbar. Das Seltsame ist, das ich diese Frau nicht richtig beschreiben kann, ich meine, falls ich das der Polizei melden würde. Es ist ja nichts weiter passiert, außer, dass ich letzte Nacht schlecht geträumt habe.

 

 

25. August.

 

Ich komme erst heute wieder dazu, zu schreiben. Ich war zwei Tage in der Schweiz bei einer alten Freundin. Sie heißt Nadeshda. Sie hat sich die Brandblasen angesehen und meine Geschichte dazu angehört. Ich habe mir lange überlegt, ob ich sie wegen dieser Sache besuchen soll. Aber die Wunden sehen nicht gut aus und ich habe einfach keine Erklärung dafür. Ginge ich hier ins Krankenhaus, bekäme ich zu viele Fragen gestellt. Irgend etwas musste ich ja tun. Mir hat nicht gefallen, was sie dazu gesagt hat, und auf meine Frage, ob in der Schweiz vielleicht das gleiche Problem auftreten könne, hat sie gesagt, die Frage müsse lauten, wo das Problem begonnen hat. War das schon eine Art Antwort?

 

 

26. August.

 

Die Behandlung meiner Brandwunden war ein Erfolg. Den Rest kann ich hier selbst machen, die Codes habe ich ja.

 

 

Teil 2

 

Augusta klappte das Büchlein zu und strich mit der Hand über den weichen gelben Einband und schloss die Augen. Sie ließ ihren Kopf in das Nackenkissen ihres Lesesessels sinken.
Seit dem letzten Eintrag in ihrem Tagebuch waren fünf Jahre vergangen. Die Baustelle, oh ja, diese Baustelle. Seit Beginn der Bauarbeiten in der ganzen Stadt waren nun beinahe schon zehn Jahre vergangen. Die U-Bahn war noch immer nicht fertig, die „Schikanen“ hatten sich in Ost-West Richtung verlagert. Das Stadtbild hatte sich aber etwas erholt. Das Baustellenthema zog sich durch ihre gesamten Tagebucheinträge. Im Nachhinein wirkten die Aufzeichnungen bedrückend, vielleicht hatte sie sich deshalb so einen rotzigen Raymond Chandler Stil angewöhnt. Und doch war nichts von alledem erfunden, auch wenn es sich Augusta noch so sehr wünschte. Vielleicht wäre es sogar besser gewesen, in der dritten Person zu schreiben und dann auch nicht als Tagenbuch, sondern gleich als Roman. Sie hatte das Tagebuchschreiben dann ganz abrupt wieder aufgegeben, wahrscheinlich weil die Tagesereignisse die Neigung hatten, in der geschriebenen Form einen anderen Aggregatszustand einzunehmen. Das Flüchtige bleibt in einer Art Brennglas hängen, und dann erkennt man plötzlich Dinge, die man vorher nicht bemerkt hat und die dann im Drehbuch weiter an der Realität feilen und formen.
Seltsame Irriationen begannen sich in Augustas Nacken zu manifestieren und sie fröstelte etwas. „Oh nein nein“ sagte sie laut und setzte sich aufrecht in ihren Sessel. Es wäre wirklich besser gewesen, sie hätte das kleine Büchlein verschwinden lassen.

 

 

4.Mai 2019

 

Augusta hatte ihre Wohnung gründlich aufgeräumt und neue Bilder sparsam und gezielt aufgehängt. Vier Rosenbilder. Die Farben rosa und hellgrün wirkten beruhigend, aber sie hatte sie nicht wegen dieser Wirkung ausgesucht, sondern, weil sie sich in der letzten Zeit immer mehr zu Blumen hingezogen fühlte. Jede Art von Lilien, Rosen, Orchideen, möglichst in Großaufnahme, Eine tiefe Liebe verband Augusta auch mit jenen kleinsten Blumen, die selbst in und nach der größten Hitze und Dürre immer wieder ihre unbändige Lebenskraft mobilisieren und sich trotz größter Belastungen immer wieder aufrichten und wachsen können, so zart sie auch sind. Für diese kleinen Geschöpfe gibt es weder Medikamente noch Blumenkrankenhäuser, keine kleinen Rollatoren oder Treppenlifte. Sie wachsen, wo sie wollen, wohin der Wind ihre Samen mitnimmt. Nach der Katastrophe von Tschernobyl hatten sich die Pflanzen in der evakuierten Zone ihre Lebensräume einfach wieder nach und nach genommen. Wäre schön, wenn wir das auch so hinbekämen, fand Augusta. Besonders nach dem letzten Sommer, 2018, hatte Augusta für die kleinsten sichtbaren Formen der Überlebenskünstler eine besondere Wahrnehmung und tiefes Mitgefühl entwickelt. Die Dürre in Deutschland hatte sie mit ihren Forschungen auf eine harte Probe gestellt. Was sie herausgefunden hatte, war an Bösartigkeit kaum zu überbieten. Atlantische Tiefs hatte es genügend gegeben, sie hatten aber alle, fast über acht Monate lang, einen ungewöhnlichen Umweg genommen. Anstatt über Deutschland und benachbarten Ländern abzuregnen, nahmen sie ihren Weg über die Nord- und Ostsee, sie wanderten zum Baltikum, dann herunter über Westrussland bis Rumänien, Kroatien, um dann endlich in Italien ihre Gesamtlast abzulassen.

 

Bösartigkeit? Wie sollte das gehen? Ist der liebe Gott böse? Oder wer sonst? Augusta mochte es so gefühlt haben, angesichts der Verwüstungen der Natur. der Tod vieler Bäume, das Gras verdorrt, es gab nichts Grünes mehr, die Tiere und Menschen litten. Augusta hatte es aufgegeben, Spaziergänge zu machen, weil sie jedesmal weinend nachhause gekommen war. Im Radio hatte es immer geheißen: das schöne Sommerwetter hält weiter an. Manchmal hatte sie sich gefragt was mit den Moderatoren los ist, merken die nichts, dürfen sie nicht? Oder was. Hatte sich die Erdachse verschoben, Hatte es einen Solar Flare gegeben, waren die großen Schwankungen im Magnetfeld der Erde schuld an der Misere gewesen oder doch die H.A.A.R P Anlagen rund um die Ostsee? Oder alles zusammen?

 

Augusta nahm sich selbst als mitfühlenden Menschen wahr. Sie war empfindsam, nahm vieles wahr, was anderen Menschen verschlossen blieb, und das war auch der Haken an der Sache. Bekannte und Freunde wollten nichts von dem wissen, was sie wahrgenommen hatte, sie waren sogar wütend auf sie gewesen und schließlich hielten sie sie für verrückt. Also verhielt sie sich ab jetzt neutral.

 

 

19.08.2019

 

Augusta hielt den Ball weiterhin flach. Mit den meisten ihrer früheren Freunde verband sie nichts mehr. Aber sie hatte immerhin auf anderen Wegen Menschen gefunden, die so manches ähnlich empfanden als sie selbst.

 

Es hatte sich vieles sehr verändert. Von drei Ehepaaren, die sie näher kannte, war mittlerweile je eine Person schwerbehindert. Schlaganfall, Gehirntumore, Nierenversagen. Stellvertretend für.eine ganze Gesellschaft wären das 50%. der deutschen Natives, also diejenigen, die man vor Ewigkeiten einmal Deutsche genannt hatte. Würde man alle in die Statistik aufnehmen, die sich gerade in Deutschland aufhielten, sähe die Statistik wahrscheinlich weniger düster aus, was gesundheitlich relevante Aussichten betrifft. Diese 50% Schwerbehinderter, zusammen mit denen, die noch halbwegs gesund wirken, wurden noch flankiert von einer ganzen Armee von halb-oder Viertelsbehinderten, die noch keinen Schwerbehindertenausweis bekommen hatten, aber auf dem Weg dahin waren. Dann kamen natürlich, nicht zu vergessen, all diejenigen noch in die Statisk hinzu, die bereits zu früh gestorben waren: an Krebs, Demenz, Herzinfarkt, Schlaganfall, Glioblastomen und anderen Gehirntumoren. Auch alles „German Natives“ („GN´s“). Augusta vermied es, diesen Begriff zu verwenden. Auch bei ihren neueren Bekannten gab es diese seit Jahren immer extremer werdende politische Korrektheit. Augustas Ansicht nach handelte es sich dabei um die am weitesten verbreitete Krankheit mit seuchenartigem Charakter, der wahrscheinlich mehr als 90% aller in Deutschland lebenden oder zumindest ganz oder zeitweise herumgeisternden Menschen zum Opfer gefallen sein dürften. So empfand es Augusta jedenfalls. Es würde sicher in weiter Zukunft niemanden geben, der Studien zu der Seuche „political correctness“ zu finanzieren bereit wäre. Niemand wusste zudem genaue Zahlen. Wen man kontrollmäßig im Blick hatte, auch zahlenmäßig, das waren die „GN´s“, denn sie waren ja registriert, alle anderen waren Geister.